BGH-Urteil bringt Klarheit zu Konstruktionsfehlern und Sicherheitserwartungen
Keine Produkthaftung beim Bruch eines Keramikinlays in einer Hüftprothese – BGH stärkt Hersteller
Hintergrund des Falls
Eine Patientin hatte nach der Implantation einer Hüfttotalendoprothese einen Bruch des keramischen Einsatzes („Inlay“) erlitten. Sie verklagte den Hersteller auf Schmerzensgeld und Schadensersatz. Das Landgericht und das Oberlandesgericht wiesen die Klage ab. Der Bundesgerichtshof (BGH) bestätigte nun diese Entscheidungen (Urteil vom 1.8.2023 – VI ZR 82/22).
Die zentrale Frage: Wann liegt ein Produktfehler im Sinne des Produkthaftungsgesetzes (ProdHaftG) vor?
Entscheidung des BGH
Der BGH stellte klar:
- Kein Fabrikationsfehler: Der Nachweis, dass der konkrete Bruch auf einem Herstellungsfehler beruhte, konnte nicht geführt werden. Ein Anscheinsbeweis griff nicht ein, da es keinen typischen Ablauf gab, der zwingend auf einen Produktionsfehler hindeutet.
- Kein Konstruktionsfehler: Zwar wiesen Inlays mit 36 mm Durchmesser ein höheres Bruchrisiko auf als kleinere Modelle. Dies war aber Stand der Technik und mit Vorteilen verbunden – etwa einer größeren Beweglichkeit und einem geringeren Risiko der Luxation (Ausrenken). Risiken dürfen nach dem BGH akzeptiert werden, wenn sie technisch nicht vermeidbar sind und ein erheblicher Nutzen gegenübersteht.
- Kein Instruktionsfehler: Der Hersteller musste 2007 nicht vor einem erhöhten Bruchrisiko warnen, da entsprechende Brüche erst ab 2009 bekannt wurden.
- Keine Anwendung der EuGH-Rechtsprechung zu Herzschrittmachern: Anders als bei hochsensiblen, lebensnotwendigen Geräten liegt hier keine vergleichbare Gefährdungslage vor.
Rechtliche Kernaussagen
- Objektive Sicherheitserwartung maßgeblich – Entscheidend ist nicht die subjektive Erwartung des Patienten, sondern die objektive Verkehrsanschauung und der Stand von Wissenschaft und Technik zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens.
- Risikoabwägung statt Null-Risiko – Absolute Produktsicherheit wird nicht verlangt. Risiken dürfen hingenommen werden, wenn sie unvermeidbar sind und der Nutzen überwiegt.
- Beweislast beim Geschädigten – Nach § 1 Abs. 4 ProdHaftG trägt der Geschädigte die volle Beweislast für Fehler und Kausalität.
Zwei Highlights aus dem Urteil
1. Zu den Warnpflichten des Herstellers:
„Lassen sich mit der Verwendung eines Produkts verbundene Gefahren nach dem Stand von Wissenschaft und Technik durch konstruktive Maßnahmen nicht vermeiden oder sind konstruktive Gefahrvermeidungsmaßnahmen dem Hersteller nicht zumutbar und darf das Produkt trotz der von ihm ausgehenden Gefahren in den Verkehr gebracht werden, so ist der Hersteller grundsätzlich verpflichtet, die Verwender des Produkts vor denjenigen Gefahren zu warnen, die bei bestimmungsgemäßem Gebrauch oder naheliegendem Fehlgebrauch drohen und die nicht zum allgemeinen Gefahrenwissen des Benutzerkreises gehören. Denn den Verwendern des Produkts muss eine eigenverantwortliche Entscheidung darüber ermöglicht werden, ob sie sich in Anbetracht der mit dem Produkt verbundenen Vorteile den mit seiner Verwendung verbundenen Gefahren aussetzen wollen. Sie müssen darüber hinaus in die Lage versetzt werden, den Gefahren soweit wie möglich entgegenzuwirken.“
2. Zum Begriff des Konstruktionsfehlers:
"Ein Konstruktionsfehler liegt vor, wenn das Produkt schon seiner Konzeption nach unter dem gebotenen Sicherheitsstandard bleibt. Zur Gewährleistung der erforderlichen Produktsicherheit hat der Hersteller bereits im Rahmen der Konzeption und Planung des Produkts diejenigen Maßnahmen zu treffen, die zur Vermeidung einer Gefahr objektiv erforderlich und nach objektiven Maßstäben zumutbar sind (…). Erforderlich sind die Sicherungsmaßnahmen, die nach dem im Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts vorhandenen neuesten Stand der Wissenschaft und Technik konstruktiv möglich sind und als geeignet und genügend erscheinen, um Schäden zu verhindern. Die Möglichkeit der Gefahrvermeidung ist gegeben, wenn nach gesichertem Fachwissen der einschlägigen Fachkreise praktisch einsatzfähige Lösungen zur Verfügung stehen. Hiervon kann grundsätzlich erst dann ausgegangen werden, wenn eine sicherheitstechnisch überlegene Alternativkonstruktion zum Serieneinsatz reif ist.“
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Natürliche oder juristische Personen können für einen Schaden, der durch ein fehlerhaftes Produkt verursacht wurde, Schadensersatz gemäß dem geltenden Unionsrecht und dem geltenden nationalen Recht verlangen. Dies ergibt sich aus Art. 10 Abs. 16 der Verordnung (EU) 2017/745 (MDR). Im deutschen Recht sind für die Produzentenhaftung insbesondere § 823 BGB sowie das Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG) heranzuziehen. Hierbei sind die Grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen der Verordnung (EU) 2017/745 (MDR) maßgeblich. Werden diese nicht berücksichtigt, gilt das Medizinprodukt als fehlerhaft. Hersteller sind deshalb nach Art. 10 Abs. 16 MDR verpflichtet, eine ausreichende finanzielle Deckung für mögliche Haftungsfälle vorzuhalten.
Die potentielle Haftung wird in der Richtlinie 85/374/EWG sowie inhaltsgleich in § 3 ProdHaftG(Fehler) beschrieben. Danach gilt:
- § 3 (1): Ein Produkt hat einen Fehler, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere
a) seiner Darbietung,
b) des Gebrauchs, mit dem billigerweise gerechnet werden kann,
c) des Zeitpunkts, in dem es in den Verkehr gebracht wurde,
berechtigterweise erwartet werden kann. - § 3 (2): Ein Produkt hat nicht allein deshalb einen Fehler, weil später ein verbessertes Produkt in den Verkehr gebracht wurde.
Bedeutung für Patienten und Hersteller
Für Patienten bedeutet das Urteil: Nicht jeder Schadensfall begründet automatisch einen Anspruch gegen den Hersteller. Es bedarf des Nachweises eines konkreten Produktfehlers.
Für Hersteller ist die Entscheidung bedeutsam, da sie den Grundsatz bestätigt: Produkthaftung ist kein Garant für absolute Fehlerfreiheit. Unvermeidbare Risiken müssen nicht vollständig ausgeschlossen werden, solange sie nach wissenschaftlichem Standard beherrschbar sind und transparent abgewogen werden.
Praktische Implikationen
- Für Patienten: Wer Schadensersatz geltend machen will, sollte medizinische Gutachten beibringen, die einen konkreten Produktfehler belegen.
- Für Ärzte und Kliniken: Bei der Wahl von Prothesenkomponenten ist eine sorgfältige Abwägung der individuellen Patientensituation entscheidend.
- Für Hersteller: Eine lückenlose Dokumentation von Entwicklung, Tests und Risikobewertungen bleibt essenziell, um Haftungsrisiken zu minimieren.
Fazit
Der BGH hat klargestellt: Ein Bruch allein begründet keine Produkthaftung. Hersteller haften nur für Produkte, die objektiv fehlerhaft sind – nicht für alle unvermeidbaren Risiken. Damit stärkt das Urteil Rechtssicherheit und zeigt zugleich die Grenzen der Produkthaftung auf.
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